Hauptsache, bequem: In Fußgängerzonen und Büros

sieht man immer mehr Menschen, denen völlig egal ist, was sie anhaben.

Was verrät das über uns selbst?

Allgemeine deutsche Geschmacksverweigerung

Gekürzte Zusammenfassung aus einem Schreiben von dem Publizisten und Philosophen Alexander Grau. Der in beeindruckender Sprache und in realistischer Form ein erschreckendes Bild der stillosen Deutschen wiedergibt.

 

Der deutsche Schlabber-Look und die selbstgefällige Bräsigkeit der Deutschen ist vor allem das Abbild einer neuen jungen Gesellschaft und deren Verständnis von Freiheit und Individualismus. Es ist das Bild des grobschlächtigen und unbedarften Ureinwohners Germaniens. Ein Blick in eine deutsche Fußgängerzone reicht aus: Eher eingepackt als gekleidet schiebt sich die amorphe Masse in ihren form- und farblosen Kombinationen aus Allwetterjacken, Jeans und Gesundheits-Tretern durch die Einkaufsstraßen. Bricht dann überraschend der heiße, südländische Sommer aus, fallen die letzten ästhetischen Hemmungen: Dann reißt sich der sonnenentwöhnte Germane bar jeden Schamgefühls alles von seinem bleichen und schwammigen Leib, was entfernt an Kleidung erinnert. In Flipflops latscht er mit T-Shirt und kurzer Hose durch die Innenstadt, als sei diese der heimische Garten.

 

Freiheit bedeutet heute für den durchschnittlichen Hunnen vor allem, sich jeder Konvention zu entledigen, insbesondere jeder Übereinkunft des gesitteten Geschmacks, um sich vollkommen hemmungslos seinen Trieben und Neigungen hinzugeben. Und so trampelt der gemeine Deutsche mit seinen luftgepolsterten Kunststoffsohlen durch die Welt, um die Beine schlackert die Kargohose, der man so praktisch die Beine abnehmen kann, und der Oberkörper ist in ein Polyesterungetüm gehüllt, dass ganz viele Taschen und Reisverschlüsse hat und dessen Manschetten sich sinnigerweise mit Klettverschlüssen enger stellen lassen.

 

Einen Anzug? Vergiss es. Verirrt sich der bundesrepublikanische T-Shirt-Träger dann doch mal in einen, ist alles zu groß: die Hose staucht sich auf den Schuhen wie eine Ziehharmonika auf und umschlackert die Beine, die Ärmel enden irgendwo an den Fingerknöcheln und das Hemd ist aus Stoffmassen gefertigt, die für ein zweites reichen würden.

 

Deutschland ist zu einem Land geworden, indem alles Unachtsame, Unansehnliche und Unmodische ein Ausdruck der modernen Freiheit geworden ist. Das Gute kommt in Deutschland in ausgelatschen Tretern und Regenjacken daher, während Maßanzüge, rahmengenähte Lederschuhe und exquisite Hemden hochgradig verdächtig sind. Freiheit bedeutet für den deutschen Michel vor allem eins: Sich der Welt möglichst rüpelhaft und ungehobelt präsentieren zu dürfen. Freiheit ist für den durchschnittlichen Germanen die Freiheit, rülpsend seine Molle auf öffentlichen Plätzen zu konsumieren, mit fettigen Fingern schmatzend einen Döner in der U-Bahn zu verzehren und jedem Mitmenschen fröhlich seine Tattoos zu präsentieren, die unter der kurzen Hose und dem T-Shirt mit dem lustigen Spaßmotiv hervorlugen. Das Wort Freiheit wird rücksichtslos entfremdet. Freiheit bedeutet jetzt, sich schlecht zu benehmen und sich in seiner wurstigen Bequemlichkeit zu suhlen.

 

Zivilisierte Völker wissen, das Freiheit, nicht einfach durch Rücksichtslosigkeit in der Gesellschaft, sondern sich nur in einem privaten Raum entfalten kann, der durch die Fassade von Konventionen und Stilnormen überhaupt erst geschaffen wird. Aber der deutsche Windjackenträger hat ein anderes Freiheitsempfinden und fühlt sich wohler in der Masse zwischen ordinärem Proletenschick und Spießigkeit. Und so gesehen, ist das Verhältnis des Deutschen zur Mode ein Abbild für das ganze Land und seiner Beziehung zur Welt.

 

Link zum Originaltext von Alexander Grau: https://www.cicero.de/stil/mode-allgemeine-deutsche-geschmacksverweigerung/54915